Vor einem halben Jahrhundert rückte die tragische Geschichte von Genie Wiley, einem 13-jährigen Mädchen, das jahrzehntelang vernachlässigt, misshandelt und zum Schweigen gezwungen wurde, in den Fokus der Forschung. Genie war unfähig zu sprechen und lebte in nahezu völliger Isolation. Ihr Leben veränderte sich, als sie von den Behörden gerettet wurde.
In den Jahren danach wurde sie von Psychologen und Forschern intensiv untersucht, um Einblicke in die menschliche Sprachentwicklung zu gewinnen. Trotz Bemühungen konnte sie nie vollständig die Fähigkeit zur Sprache erlangen. Genies tragische Geschichte steht als erschütterndes Beispiel für die schlimmen Auswirkungen von Vernachlässigung und Isolation auf die menschliche Entwicklung und hat die Forschung im Bereich der Sprachentwicklung nachhaltig beeinflusst.
1. Die Magie der ersten Begegnung
Die erste Begegnung zwischen Susan Curtiss und Genie war für die Linguistik-Studentin etwas Magisches. Genie lag allein in einem Zimmer des Kinderkrankenhauses, und Susan beobachtete sie fasziniert. Die Augen des Mädchens drückten sämtliche Gefühle aus, und diese Begegnung fand vor fast 50 Jahren an einem Frühlingstag statt.
Genie war das Mädchen, das in den Zeitungen als „Wild Child“ bezeichnet wurde, und über dessen Schicksal damals fast täglich berichtet wurde. Susan Curtiss‘ erste Eindrücke markierten den Beginn einer tiefen Verbindung zu Genie und leiteten eine bedeutsame Phase in der Linguistik- und Forschungsgeschichte ein.
2. Das mysteriöse Auftauchen von Genie
Völlig unerwartet tauchte Genie wenige Monate zuvor in Temple City, einem Vorort von Los Angeles, auf. Das blasse Mädchen wurde einer Sozialarbeiterin bekannt, als ihre stark sehbehinderte Mutter, Irene Wiley, im Gesundheitsamt um finanzielle Unterstützung bat. Genie hatte einen auffällig gebückten Gang und konnte nicht sprechen.
Bald wurde klar, dass diese Symptome auf jahrelangen Missbrauch und Vernachlässigung zurückzuführen waren. Genies unerklärliches Auftauchen markierte den Anfang einer der bewegendsten Geschichten in der Forschung zur menschlichen Entwicklung und Linguistik, die bis heute fasziniert und bestürzt.
3. Gehalten wie ein Kettenhund
Im Jahr 1957 wurde Genie in Los Angeles geboren und kam in eine äußerst problematische Familie. Ihre Mutter war blind und gesundheitlich geschwächt, während ihr Vater sowohl brutal als auch psychisch krank war. Bereits im Alter von 20 Monaten wurde Genie in ein Schlafzimmer gesperrt, wo sie bis zu ihrer Befreiung bleiben musste. Tagsüber war sie an einen Toilettenstuhl gefesselt, nachts ans Bett.
Oft wurde ihr Essen vorenthalten, und ihr war es untersagt zu sprechen. Bei jeglichem Geräusch folgten Schläge. Ihr Vater kommunizierte nicht mit ihr, sondern gab knurrende Laute von sich, um ihr zu signalisieren, still zu sein. Genie lernte, unsichtbar zu sein und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Unter diesen entsetzlichen Bedingungen hatte sie kaum Gelegenheit, irgendetwas zu erlernen.
4. Die Sprachlerndebatte der 70er Jahre
Der Vater, der seine Tochter grausam quälte, nahm sich selbst das Leben, bevor die Polizei ihn verhaften konnte. Aus dem einst ungewollten Mädchen wurde plötzlich das Zentrum von Medieninteresse und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Genie, das 13 Jahre lang von menschlicher Kommunikation und Wärme völlig isoliert war, wurde von Presse und Wissenschaft gleichermaßen umworben.
Ihr tragischer Fall stellte eine zentrale Frage in den linguistischen Debatten der frühen 70er Jahre auf: Kann man Sprache noch erlernen, wenn man bereits älter ist, oder gibt es Phasen, in denen der Spracherwerb unmöglich wird? Genies Geschichte sollte diese Debatte maßgeblich prägen.
5. Das meistgetestete Kind
Neurowissenschaftler untersuchten Genies Hirnströme, Bindungsforscher analysierten ihre emotionale Verfassung, und Sprachwissenschaftler erforschten ihr Sprachvermögen. Das Mädchen wurde zu dem, was der Psychologe David Rigler als das „wohl meistgetestete Kind in der Geschichte“ bezeichnete.
Rigler leitete eine Forschungsgruppe, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Genie die Welt der Wörter näherzubringen. Allerdings wurde später Kritik laut, als bekannt wurde, dass er Genie als Ersatzvater in sein Haus aufnahm und damit die notwendige Distanz für objektive Forschung aufgab.
6. Die tragische Wende in ihrem Leben 1975
Tatsächlich gelingt es Genie, im Laufe der Zeit zu sprechen. Sie wird sogar in der Lage, mit ihren Pflegeeltern, Forschern und Therapeuten über die schreckliche Gefangenschaft zu sprechen: „Vater nimmt Stück Holz. Schreien.“ Sie erlernt, Fragen zu stellen, Bitten zu äußern und sogar zu lügen.
Dennoch bleibt ihre Grammatik auf einem rudimentären Niveau. Nach fünf Jahren, in denen Genie immer noch einzelne Wörter ohne klaren Zusammenhang aneinanderreiht, verliert das National Institute of Health (NIH) als Geldgeber die Geduld. Im Jahr 1975 werden Riglers Forschungsgelder gestrichen, und Genies Leben nimmt eine zweite schreckliche Wendung.
7. Von Pflegefamilie zu Pflegefamilie und erneutes Schweigen
David Rigler und seine Frau Marilyn entscheiden sich schließlich dazu, Genie wieder abzugeben. Das Mädchen kehrt zu ihrer Mutter zurück, die nach einem Freispruch das Sorgerecht zurückerlangt hat, und zieht zurück in das Haus, aus dem es zuvor vor einer schrecklichen Vergangenheit geflohen war.
Doch bald ist die Mutter überfordert, und Genie wird von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht. In der ersten dieser Familien wird sie erneut misshandelt, was dazu führt, dass sie wieder verstummt und ihre Fähigkeit zu sprechen erneut verliert.
8. Ein vergessenes Leben im Pflegeheim
In einem Pflegeheim irgendwo in Los Angeles lebt heute ein Mensch, dessen Schicksal einst die Welt bewegte. Dieses vergessene Leben, das einst fünf Jahre lang die Aufmerksamkeit der Forschung und Medien auf sich zog, hat mittlerweile seinen Platz in der Anonymität eines Pflegeheims gefunden.
Die Geschichte von Genie, dem „Wolfskind“, das die Fragen der Linguistik und menschlichen Entwicklung aufwarf, ist längst in den Hintergrund getreten. Sie erinnert uns daran, wie schnell das Interesse der Welt vergeht, während einzelne Leben, geprägt von so viel Schmerz und Isolation, weitergehen, oft unbemerkt und unbeachtet.